Ich habe den Herrn allezeit vor Augen.
„Es war schrecklich, wir hatten große Angst. Ich
dachte, das ist mein letzter Tag. Ich werde sterben.“ Diese Worte stammen von
Marie, einer jungen Frau, die mir im Sommer in Armenien von ihrer Flucht aus
Bergkarabach erzählte. Es war ziemlich genau vor einem Jahr, als Aserbaidschan
das Gebiet Bergkarabach angegriffen hatte und die dort lebenden Armenier
innerhalb von wenigen Tagen zur Flucht gezwungen hat. 120.000 Menschen mussten
ihre Heimat verlassen. Wir trafen eine Gruppe von Geflüchteten, die in Bergkarabach
zur evangelischen Kirche gehörten und konnten mit einigen von ihnen sprechen.
Unter anderem mit Marie, die weitererzählte. „Es gab Explosionen, die Häuser
brannten, und wir wussten nicht, wie es weitergeht Es war ein großes Chaos. Und
dann habe ich gebetet: „Du Gott wirst meine Seele nicht dem Tode lassen. Du
tust mir kund den Weg zum Leben.“ Und ich spürte Gott ist bei mir.
Selbst jetzt, wenn ich ihnen von diesem Gespräch
erzähle, bin ich tief berührt. Ein Gebet, ein Psalm hat Marie in diesen Stunden
getragen. Sie hatte ihn sicher viele Male vorher gesprochen und gebetet, sie
kannte diese Worte auswendig.
In der Stunde der Angst waren es die Worte eines
Psalms für Marie ein Trost und eine Zuversicht.
Und diese Worte stammen aus dem Psalm 16, den Sie
ausgedruckt in den Händen halten. In der jüdischen Tradition wird er oft im
Zusammenhang mit dem Sterben und dem Tod gebetet. Und das, obwohl die Worte vom
erfüllten und glücklichen Leben sprechen und an die schönen Dinge des Lebens
erinnern und die besondere Beziehung zu Gott unterstreichen.
Solche Trost- und Lobpsalmen, die Dankbarkeit
ausdrücken und an das Gute erinnern, sind wie ein Speicherplatz für schlechte
Zeiten.
„Ich habe den Herrn allezeit vor Augen.“ – so steht
es im Vers 8. Es bedeutet: Gott sichtbar vor Augen zu haben. Tag und
Nacht. Immer. Wie einen Schatz. Täglich mit ihm im Kontakt zu sein – in guten
und ich schlechten Tagen. Manchmal helfen da Gegenstände wie Ikonen,
Gebetsketten, Rosenkränze, Kerzen, vielleicht haben Sie Ihre Konfirmandenbibel
auf dem Nachttisch oder etwas anderes, das Sie an Gott und seine Zusage
erinnert.
Wir leben in Zeiten multipler Krisen. Die Pandemie
ist nicht für alle zu Ende, hat Spuren hinterlassen. Es gibt Kriege in unserer
unmittelbaren Nähe, beängstigende Wahlergebnisse in den letzten Wochen,
Einsamkeitsstudie mit bedenklichen Ergebnissen. Hass und Unzufriedenheit nehmen
zu. Und wir verlieren Gott aus unserem Blick.
Und ich frage mich - was tröstet dann Menschen in solchen
Zeiten. Was gibt Ihnen Zuversicht? Was trägt Sie persönlich? Aus welcher Quelle
schöpfen Sie Ihre Kraft?
Krisenzeiten gab es immer. Kriege, Flucht,
Krankheiten.
Die Menschen haben unterschiedlich reagiert. Paul
Gerhard zum Beispiel, hat Lieder – vor allem Loblieder gedichtet – er hat den
30-jährigen Kriege erlebt, seine Frau und 4 seiner 5 Kinder verloren. Durch das
Schreiben wusste sich in der Nähe zu Gott geborgen.
Oder Cornelius Becker, der den Text zum Lied „Wohl
denen die da wandeln“ geschrieben hat. Er schrieb in einer Zeit, die immer
dunkler wurde – kurz vor dem 30-jährigen Krieg. Da war ihm der Psalm 119 ein
Trost.
Meine Vorfahren mussten als evangelische Christen
nach dem Dreißigjährigen Krieg ihre Heimat aus Glaubensgründen verlassen. Was
sie mitgenommen haben, war eine alte, schwere, in Leder gebundene Bibel mit der
Familienchronik mit. Ich habe sie nach dem Tod meiner Eltern geerbt.
Das war ihr Trost und ihre Hoffnung, das Wort
Gottes bei sich zu haben. Ein Schatz, den sie wie ein Augapfel gehütet haben.
Marie nahm das Ritual des Gebets, die Psalmen und
die Zuversicht mit, dass Gott bei ihr ist. Ein Schatz in ihrem Herzen, den ihr
niemand wegnehmen kann.
Ich fühle mich mit Marie und auch mit meinen
Vorfahren verbunden. „“Ich habe den Herrn allezeit vor Augen“.
Psalmen geben mir Kraft, sie spiegeln wider, was
ich immer wieder erlebe: Gott ist mein sicherer Halt, egal, was geschieht.
Der Psalmist wiederholt regelmäßig in guten Zeiten,
wofür er dankbar ist, um es in schweren Zeiten nicht aus den Augen und aus dem
Sinn zu verlieren.
Das ist eine Lebensweise, die meine Vorfahren in ihren
Familien und unzähligen Bibelstunden ritualisiert haben. Eine Grundhaltung, die
Marie in ihrer Gemeinde in Bergkarabach gelernt hat.
Den Herrn allezeit vor Augen zu haben, ihm seine
Wege anzuvertrauen, das verändert.
Das ist die Quelle, aus der wir schöpfen können,
wenn es schwer ist. “Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die
Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.” - Psalm 16,11
Dass Menschen, wie Marie, solche Worte in lebensbedrohlichen
Situationen sprechen und beten können, berührt und beschämt mich.
In Armenien spürte ich bei Marie, aber auch bei den
anderen, die ihre Heimat verlassen mussten, was es bedeutet, von Gott, vom
Glauben und von der Gemeinschaft getragen zu werden.
Sie erzählten mir Geschichten von Hoffnung und
Zuversicht. Kleine Geschichten von Begleitung und Bewahrung. Und wir haben
gemeinsam gegessen und einen Gottesdienst gefeiert. Es wurde gesungen und
gebetet, ja – auch Psalmen - es flossen Tränen. Auch meine. Obwohl ich
nicht armenisch kann.
Aber verstanden habe ich wohl, dass sie einen
gemeinsamen Schatz haben. Den Glauben, die alten Worte der Bibel und die
Lieder. Sie haben mir eindrücklich vor Augen geführt - das, was im Leben
wirklich zählt, ist nicht der materielle Besitz, sondern die Beziehung zu Gott
und die Gemeinschaft untereinander.
Ich habe verstanden, was sie in dieser Zeit
getröstet und getragen hat, ihnen Zuversicht gab. Die Quelle, aus der sie
schöpfen konnten, haben sie vorher gefüllt. Mit dem Schatz der biblischen
Worte, mit Ritualen und Gebeten. Mit Erfahrungen mit Gott, die sie miteinander
teilten.
Und ich denke an die Bibel in meinem Bücherregal –
voll mit tröstlichen Worten und Gebeten, mit Geschichten von Glauben und
Zuversicht. Sie erzählt von einer Reise, die lange vor uns begann. Sie ist noch
nicht zu Ende, aber eines ist sicher: Egal, wohin der Weg führt, egal, wie
schlimm sich gerade alles anfühlt. Gott geht mit. Und wir gehen miteinander.
Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die füreinander einstehen, die sich
nicht einschüchtern und zum Schweigen bringen lassen.
Es ist der Glaube und die Hoffnung und die Liebe,
die uns durch alle Zeiten hindurch verbinden – mit unseren Vorfahren, mit den
Menschen in Bergkarabach, und mit jedem Einzelnen, der sich auf Gott
verlässt.
Predigt in der Tübinger Eberhardskirche am 16. Sonntag nach Trinitatis - ein Jahr nach dem Überfall Aserbaidschans auf Berg-Karabach.
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