Jetzt ist die Zeit der Gnade

Alles war so schön. Im Garten Eden. Überall Früchte und schattige Bäume, die vor der Hitze des Tages schützen. Frische Quellen, die den Schweiß des Tages abwaschen und den Durst löschen. Lamm und Wolf spielen zusammen, niemand bekriegt sich. Adam und Eva im Paradies.

Alles war so schön. Der Urlaub in Hamburg. Sonne und die glänzende Elbphilharmonie. Die Schiffe fahren ganz friedlich in den Hafen hinein. Gutes Essen in einem feinen Restaurant. Was für Privileg, fast wie im Paradies. 

Es erfüllt mich eine große Dankbarkeit für dieses wundervolle Leben in Freiheit und Frieden. Es ist alles da, alles im Überfluss. So ganz selbstverständlich. Jeden Morgen, jeden Abend und an jedem neuen Tag.  Was für ein Segen, was für eine Gnade.

Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde im Korinth: „Als Mitarbeiter Gottes bitten wir euch: Sorgt dafür, dass die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, nicht ohne Wirkung bleibt. Denn Gott spricht: Zu der Zeit, als ich dir Gnade schenkte, habe ich dich erhört. Am Tag der Rettung bin ich dir zu Hilfe gekommen. Seht doch, Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt. Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung. 

Ein Tag der Gnade? Adam und Eva wachen eines Tages auf und nichts ist, wie es mal war. Sie sind dem Bösen auf den Leim gegangen, sie haben sich verführen lassen. Von dem Versprechen wissend, klug,  mächtig zu sein und ewig zu leben. Wie Gott selbst zu sein. Dieser Größenwahnsinn hat Folgen. Das Paradies ist zu Ende und da draußen herrschen Betrug und Feindschaft, Schmerzen, Fluch, Mühsal, Hunger und Tod. Wir haben es gerade in der Schriftlesung gehört. (Gen 3,1-19)

Vor 11 Tagen wachte ich mitten in der Nacht auf, sah auf mein Smartphone (eine schlechte Angewohnheit – ich weiß) und die Welt war eine andere. Ein Krieg in Europa. Ein Krieg in der Nähe. Ein Krieg der Diktatur gegen die Demokratie. Ein Krieg der Propaganda und der Knechtschaft gegen die Freiheit. Das Böse hat Einzug gehalten in unsere scheinbar friedliche Welt. Macht, Gier und Größenwahnsinn sind auf dem Vormarsch. Gnadenlos, erbarmungslos. Seither begleiten mich die Bilder. Ich fühle mich ohnmächtig und sprachlos.

Und mit diesen Gefühlen gehe ich in die Passionszeit, die am Mittwoch begann. Für uns als Christinnen und Christen in der Erinnerung an Jesu Weg, für die Menschen in der Ukraine als bittere Realität.

Paulus schreibt weiter: Mit großer Standhaftigkeit ertragen wir Leid, Not und Verzweiflung. Man schlägt uns, wirft uns ins Gefängnis und hetzt die Leute gegen uns auf. Wir arbeiten bis zu Erschöpfung, ohne zu schlafen oder zu essen.

Plötzlich sprechen diese Worte in meine kleine, überschaubare Welt. Ich sehe Leid, Not und Verzweiflung. Bilder von Kindern in U-Bahn-Schächten, die sich in Kiew vor Bombenangriffen in den Armen ihrer Mütter verstecken. Herzzerreissende Bilder an den Bahnsteigen, die Väter verabschieden ihre Lieben ohne zu wissen, ob sie sich je wiedersehen. An den Grenzen zu Polen, Slowakei und Ungarn kilometerlange Staus. Verzweifelte und verängstigte Menschen versuchen aus der Ukraine in Sicherheit zu gelangen. In Russland werden Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren, auf brutalste Weise bekämpft, geschlagen und verhaftet. Diese Mutigen, die für Freiheit und Gewaltlosigkeit mit Plakaten statt Waffen kämpfen. Russische Soldaten, die in einen sinnlosen Krieg geschickt werden und es mit dem Leben bezahlen. Ukrainer in Deutschland, die um das Leben ihrer Verwandten bangen und kritische Russinnen und Russen hierzulande, die jetzt auch einer Feindschaft ausgesetzt sind.

Und wir? Paulus setzt fort:

Wir achten auf einen einwandfreien Lebenswandel, Erkenntnis, Geduld und Güte, den Heiligen Geist und aufrichtige Liebe. Wir achten außerdem auf die Wahrheit unserer Verkündigung und die Kraft, die von Gott kommt. Wir erfüllen unseren Auftrag – mit den Waffen der Gerechtigkeit, die Gott uns in die rechte und die linke Hand legt. 8Wir erfüllen unseren Auftrag, ob wir dadurch Ehre gewinnen oder Schande, ob wir verleumdet werden oder gelobt. Wir gelten als Betrüger und sagen doch die Wahrheit. 9Wir werden verkannt und sind doch anerkannt. Wir sind vom Tod bedroht, und seht doch: Wir leben! Wir werden ausgepeitscht und kommen doch nicht um. 10Wir geraten in Trauer und bleiben doch fröhlich. Wir sind arm und machen doch viele reich. Wir haben nichts und besitzen doch alles!

Was für eine (für mich) unerträgliche Gleichzeitigkeit. Ja, es ist Paulus Gleichzeitigkeit, aber sie trifft auch mich.

Betrug x Wahrheit. Trauer x Freude. Tod x Leben.

Geduld? Habe ich keine. Ich möchte, dass das Leid aufhört. Dass der Krieg beendet wird. Jetzt sofort. Bevor weitere Menschen sterben, bevor noch mehr Leid passiert.

Kraft? Geht mir aus. Ich versuche zu helfen, zu organisieren, zu informieren. Und fühle mich dennoch so hilflos.

Ich habe Angst. Um meine Lieben. Um den Frieden, um Freiheit. Ich habe Angst um diese Welt. Es ist alles so zerbrechlich.

In diese Angst hinein höre ich: „Sehr doch! Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt!

Und ich suche nach der Gnade, die Gott uns schenkt. Und vielleicht finde ich sie gerade nur bei diesem Jesus, der all das Furchtbare aushält. Der ans Kreuz geht. Und der die Armen und Traurigen seligpreist und mir ein Senfkorn hinhält. „Hier“ sagt er: das ist das Reich Gottes. Das ist die große Liebe Gottes. Sie macht sich klein und ist doch unendlich groß.

Ich suche nach der Gnade und vielleicht finde ich sie bei den Menschen, die in Russland auf die Straße gehen und gegen Putin demonstrieren. Und ich finde sie bei den Menschen in den böhmischenDörfern in der Ukraine, die gerade Geflüchtete aufnehmen und versorgen. Vielleicht finde ich die Gnade bei der jungen Ukrainerin, die einem erschöpften russischen Soldaten Brot und Wasser reicht. Ich finde sie in der Bereitschaft der Menschen zu spenden. Ich finde die Gnade in den Friedenslichtern, die nicht nur hier im Kirchenbezirk, sondern weltweit  jeden Tag irgendwo entzündet werden.

Und während ich nach der Gnade suche, schreit meine Seele, so wie Jesus am Kreuz geschrien hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Psalm 22)“. 

Und ich bete:

Gott. Da ist Krieg. In Deiner Welt. Und ich sehne mich nach Frieden. Ich möchte mich heil fühlen und wünsche mir Hoffnung. 

Gott. Bombenalarm ertönt und Menschen schlafen unter der Erde. Und ich sehne mich nach dem Ende der Gewalt. Nach Ruhe und Frieden.

Gott. Alles liegt im Chaos. Auch in mir. Und ich sehne mich nach Ordnung. Ich möchte einfach nacheinander Dinge tun und fühlen. Nicht alles gleichzeitig.

Gott. Alles ist schwarz. Und ich sehne mich nach Farbe. Nach Liebe und nach Sonne. Ich möchte leben. Leben in Deiner Welt. Mit allen und im Frieden.

Es ist Passionszeit und wir sind mittendrin. Und ich hoffe und glaube: jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade und Rettung schenkt.

Amen


Predigt am Sonntag Invokavit am 6. März in der Martinskirche in Tübingen

Schriftlesung: Genesis 3,1-19

Predigttext: 2. Korinther 6,1-10

Lieder:  Gott des Himmels und der Erde
              Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht
              Da wohnt ein Sehnen tief in uns o Gott
              Ach bleib mit deiner Gnade

 

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