Alles hat seine Zeit

Wir sind angekommen. Das Haus steht da. Weiß leuchtet es in der Abendsonne. Es trägt die Nummer 52 und den Namen LiLeTá – Libusin letní tábor (Libuse´s Sommerlager). Gebaut im Jahr 1938 von unserem Großvater. Libuse, seine Schwägerin, lebte hier bis zu ihrem Tod. Alleinstehend und  gesellig. Sie öffnete ihre Türen für unterschiedliche Menschen, vermietete ihre Zimmer und betrieb einen kleinen Kiosk im Hinterhof. Sie schwamm im See bis ins hohe Alter. Vom Frühjahr bis zum Herbst.


Die Stimmung ist magisch. Ruhig. Meine Erinnerungen reichen bis
ins jüngste Alter und mischen sich mit den Erzählungen meiner Mutter. Sie erzählt, wie sie mich morgens um 5 Uhr im Kinderwagen um den See schob. Weil ich eine Lerche bin und ich im Haus sonst alle aufgeweckt hätte. Im Lädchen oben im Dorf kaufte sie für mich „rohliky“ – Hörnchen. Auf dem Rückweg badete sie mich im See. Und ich schrie, weil ich nicht wieder raus wollte. Zu Hause angekommen schob sie den Kinderwagen in den Garten, wo ich im Schatten der großgewachsenen Sauerkirche weiterschlief. 

Später gingen wir allein ans Wasser. Mit Decken, Sonnencreme und Broten mit geschnittenen Tomatenscheiben. Mit 10 Jahren überquerte ich das erste Mal schwimmend den See. Eingetragen ist es im Gästebuch aus dem Jahr 1938. Jede und jeder schrieb es rein. Auch meine Kinder. So will es das Gesetz.

Das Trinkwasser holten wir am Brunnen hinter dem Haus. Mit je zwei großen Krügen gingen wir mehrmals am Tag hin. Später gab es Leitungswasser, ein Boiler und eine Dusche.

Meine Kinder wuchsen hier auch auf. Sie verbrachten hier die Sommerferien mit den Cousinen und Cousins, mit Oma und Opa. Auch sie gingen schwimmen, grillten im Garten, spielten Spiele und ließen Wurzeln wachsen.


Das Haus haben meine Eltern nach dem Tod von Tante Libuse übernommen und nach und nach hergerichtet. Das Dach wurde neu gemacht und die Böden. Ich hatte die Idee für den Wanddurchbruch im Erdgeschoss von der Küche ins Kaminzimmer und der Vater setzte es kurzerhand um.

Sonntags gingen wir in die Kirche nach Klokocov. Der Großvater hat sie gebaut. Das Harmonium war verstimmt, an den Fensterbrettern lagen tote Fliegen. Gepredigt hat mein Vater. Obwohl er Urlaub hatte. Einmal durfte ich übernehmen, im T-Shirt. Es war sein 70. Geburtstag. Der Weg zur Kirche war mühsam und spannend zugleich. 3,5 Kilometer am See entlang. Manchmal fanden wir Pilze – Maronen und Birkenpilze. Selten auch Steinpilze. Abends gab es eine Pilzpfanne. Wir haben alle überlebt. 

LiLeTá war ein Gasthaus - im wahrsten Sinne des Wortes. Gäste gingen hier ein und aus. Das
Gästebuch erzählt davon. Während des Krieges war es eine Oase, ein Treffpunkt von Künstlern. Später war es der Ort, an dem die Jugendfreizeit stattfand. Es gab ein großes Bettenlager auf dem Dachboden, Tischtennisturniere, Theaterstücke und lange Abende mit Gitarre am Lagerfeuer. Auch das steht im Gästebuch. Hier habe ich mit neun Jahren meine erste Liebe erlebt, heimlich hielten wir Händchen, trafen uns am See und durften nicht nebeneinander schlafen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.

Im August 2013 waren wir alle da. Kinder und Cousinen, Freunde und die Eltern. Meine große Schwester und ich. Wir haben gelacht, gesungen, Unkraut gejätet, im See geschwommen, Bier getrunken in „Pod drnem“- einer Kultkneipe nebenan. Es war der letzte Sommer mit ihr. 42 Sommer haben wir hier miteinander verbracht. Unsere Geheimnisse und Sorgen geteilt. Zuerst als Kinder, dann als Erwachsene, später als Mütter. Es war unser Zuhause. Ein Zuhause der Pfarrerskinder, die keinen festen Ort haben. Ein Stabilitas loci, wie ein Freund sagte.

Zu zweit fuhren wir damals nach Prag zur Ausstellung unseres Cousins und zum Arzt. Und ich fragte sie, ob sie sich vor dem Tod fürchtet. „Nein“, sagte sie. „Aber das Leben ist zu schön, um zu sterben“. Im Dezember starb sie. Mit 48 Jahren. Fünf Jahre später folgte der Vater. Nur einmal war ich seitdem im Haus. Um zu spüren, dass sie fehlen. 

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. (Prediger 3,1-8)

Ich gehe noch einmal durch alle Räume, atme den Duft des Hauses ein. Ich denke an die Menschen, die hier ihre Spuren hinterlassen haben. Das letzte mal schreibe ich in das abgegriffene Gästebuch. Im Arbeitszimmer meines Vaters finde ich eine alte Muschel. Ich lege sie ans Ohr. Das Rauschen des Meeres ist verstummt. Ich halte sie in der Hand, Dankbarkeit und Trauer verwandeln sich in salzige Tränen und ich ahne, was es bedeutet: Alles hat seine Zeit.


Kommentare

  1. Schön, liebe Maddalena!
    Dankeschön

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  2. Sehr interessante, romantische Geschichte ...

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  3. Zu Herzen gehende Geschichte und so schön formuliert, dankeschön!🙏🤗

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