Kinder, wir singen!

Kinder, wir singen! 

So hieß es in der Familie meiner Mutter. Jeden Morgen und häufig auch jeden Abend sammelte der Großvater die Familie am Esstisch, sie waren zwei Brüder und eine Schwester -meine Mama  - und dann wurde gesungen, Bibel gelesen und gebetet. So begann der Tag und so ging er auch wieder zu Ende. Mit einer Andacht. Mein Großvater war ein sehr frommer Mensch. Er war ein Unternehmer und ehrenamtlich sehr in der Gemeinde aktiv. Er war KGR Vorsitzender, Prädikant, leitete Bibelstunden und machte allerlei Besuche. Und bei der religiösen Erziehung der Kinder war er konsequent. 

Kinder, wir singen! Ob man wollte oder nicht. Als ich meine Mama fragte, wie sie das als Kind fand, sagte: Naja, wir haben uns daran gewöhnt. Sie hat sich daran gewöhnt. Es wurde zum festen Ritual in der Familie und auch in ihrem Leben. Einen Teil dieser Tradition hat meine Mutter in ihre eigene Familie übernommen. Manchmal fand ich es nervig, morgens vor der Schule noch zu beten und in der Bibel zu lesen. Um ehrlich zu sein, fand ich es immer nervig. Nicht selten kam ich zu spät zur Schule. Doch auch bei uns gab es keine Diskussionen. Und meine Eltern behielten diese Routine bis ins hohe Alter. Mein Vater konnte noch Psalmen und Gebete sprechen, als sein Sprach- und Denkvermögen nicht mehr vorhanden war. Und meine Mutter, inzwischen verwitwet, setzt es fort.  

Als ich sie fragte, warum sie die Tradition  - dieses Ritual -übernommen hat, sagte sie:  Den Tag mit einem Gebet zu beginnen - mit einer Bitte um Segen und Bewahrung - war mir immer wichtig und tat mir gut. Es hat sich bewährt. Danach konnte ich getrost in den Tag oder in die Nacht gehen. Egal, wie schwer wie Zeiten waren. 

Rituale sind wichtig, doch sie sind nicht selbstverständlich und vor allem sie kommen nicht von allein. In einer Klinik habe ich gelernt, dass Rituale oder Routinen Regelmäßigkeit und mindestens 4 Wochen brauchen, bis sie zum Ritual werden. Meisten aber länger. Je nachdem, wie häufig sie durchgeführt werden. Egal ob es um regelmäßigen Sport geht oder Ernährungsumstellung oder regelmäßiges Instrument üben. Erst nach einer gewissen Zeit versteht das Gehirn, dieses Ritual gehört jetzt zu diesem Leben. Apostel Paulus gibt im Brief an die Epheser Tipps für solche Rituale und Routinen. 

15 Achtet also sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt: Nicht voller Dummheit, sondern voller Weisheit. 16 Macht das Beste aus eurer Zeit, gerade weil es schlimme Tage sind. 17Aus diesem Grund sollt ihr nicht unverständig sein, sondern begreifen, was der Wille des Herrn ist! 18 Betrinkt euch nicht mit Wein, denn das macht euch zügellos. Lasst euch lieber vom Geist Gottes erfüllen. 19 Tragt euch gegenseitig Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder vor. Singt für den Herrn und preist ihn aus vollem Herzen! 20 Dankt Gott, dem Vater, zu jeder Zeit und für alles –im Namen unseres Herrn Jesus Christus. 

Schade, dass es jetzt ein Monolog ist und wir uns da nicht im Gespräch austauschen können. Mich würde wirklich sehr interessieren, was Sie sich jetzt von diesen Ratschlägen gemerkt haben: Abgesehen von dem Rat, nicht zu viel Wein zu trinken, bin ich persönlich an dem Vers hängen geblieben „macht das Beste aus eurer Zeit, gerade, weil es schlimme Tage sind“. 

Ja, es sind schlimme Tage. Um mich herum erkranken so viele Menschen an Corona – manche davon sehr schwer. Das macht mich nachdenklich und auch etwas vorsichtiger. Der Krieg in der Ukraine betrübt mich und macht mir auch Angst. Und ich ahne wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise, wie es den Betroffenen geht. Die steigenden Kosten … Klimawandel und vieles mehr. Ach, Sie wissen ja alle, wie schlimm die Tage sind. Wie soll man das Beste daraus machen? Und was ist überhaupt das Beste?

Mach das Beste aus eurer Zeit. Für mich klingt das nach so einem Kalenderspruch: „Carpe Diem – nutze den Tag“. Oder „Lebe den Tag, als wäre es dein letzter“. Jeden Tag auskosten, und das Beste aus ihm rausholen. Nur so wird mein Leben unverwechselbar. Und für so ein „Carpe diem-Leben“ gibt es abertausende Ratgeber und Bücher. Ehrlich gesagt, hören sich solche Selbstoptimierungstipps für mich ziemlich anstrengend an und sie stressen mich. Was ich alles sollte und müsste, wie ich aussehen soll, was von mir erwartet wird, wie ich zu leben habe. Inzwischen habe ich auch ein Alter erreicht, da bin ich manchmal froh, wenn ich morgens wenigstens gut aus dem Bett komme, wenn ich den Abend zuvor zu intensiv gelebt habe. 

Und dann kommt auch noch Paulus um die Ecke: Achtet auf euer Leben, macht das Beste aus eurer Zeit, hört auf den Willen Gottes, betrinkt euch nicht, lest euch gegenseitig Bibeltexte vor, singt dem Herrn und dankt ihm. Puh.

Doch wenn ich mir den Text mehrmals durchlese, merke ich, nicht die einzelnen Tipps von Paulus sind für mich persönlich von Bedeutung, sondern die Summe ihrer. 

Kinder wir singen! Plötzlich tauchen diese alten Geschichten in meinem Kopf auf und ich merke, wie sich mich geprägt haben – die kleinen und großen Rituale. Die Morgenandacht, das Gebet vor dem Essen, das Abendlied oder ein Gutenachtsegen. Sonntags die Kinderkirche, später der Gottesdienst. Die Einübung aller dieser Rituale hat mich Kraft gekostet und Nerven und gezweifelt habe ich mehr als einmal. Zeitlang war ich ganz weg und habe versucht das Leben anders zu gestalten. Doch diesen Mantel, den meine Eltern mir mitgegeben haben, habe ich nie wirklich abgelegt. Er umhüllt mich und gibt mir Sicherheit. 

Im Rückblick sehe ich, welchen Schatz meine Eltern mir mitgegeben haben. Meine Rituale sind anders als ihre, ich habe sie verändert, angepasst und weiterentwickelt. Die Tageslosung ist eins meiner täglichen Rituale. Ich lese sie aber nicht im Buch, sondern auf dem Handy. Ich poste sie dann auf Instagram, damit auch andere was davon haben. Oder mittags – wenn um 12 Uhr die Glocken der Eberhardskirche (die neben meinem Büro ist)  läuten halte ich kurz inne. Und sonntags gehe ich in die Kirche, auch wenn ich manchmal keine Lust habe. Es ist zu früh und zu kalt und zu dunkel. Dann schalte ich mich irgendwo digital hinzu. 

Die Gemeinschaft, die Bibeltexte, die Lieder tun mir gut. Die Botschaft der Bibel, dass ich gut bin, so wie ich bin, dass Gott mich gnädig und liebevoll anschaut mit all meinen Brüchen – das brauche ich regelmäßig zum Leben. Es gibt mir Kraft und justiert meinen inneren Kompass, den ich im Alltag für meine Entscheidungen brauche. Sie geben mir eine Sicherheit und stärken mein Gottvertrauen. Ich fühle mich darin geborgen. 

Und ich hoffe und bete, dass Menschen, die mir anvertraut sind, insbesondere meine Kinder, auch einen Teil davon für ihr Leben, für ihren eigenen Kompass mitnehmen können.

Und vielleicht ist es am Ende das Beste, was ICH aus MEINER Zeit gemacht habe – diese Rituale und den Glauben an meine Kinder weiterzugeben. 

Kinder, wir singen! Amen

Predigt am 16.10.2022 in der Martinskirche in Tübingen zum Predigttext aus Epheser 5,15-20

Kommentare

  1. Ich habe beim Zuhören heute morgen auch an meine Großmutter gedacht,da war in denen Ferien das morgendliche Losung lesen mit Lied auch "Pflicht".

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  2. Vielen Dank, hat mich sehr berührt, ich kenne das auch mit den Routinen. Wenn manchmal sonst nichts mehr geht, hat man noch dieses Gerüst. Gott tut wohl.

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  3. Danke. Du musst unbedingt so weiter schreiben bzw. predigen. Tut mir gut. Also auf jeden Fall nicht nur Pressetexte ... Ich freue mich auf die nächste kirche@home.

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