SCHAFFE MIR RECHT!
Predigt am Volkstrauertag, am 13. November 2022 in der Martinskirche in Tübingen
Aus Lukasevangelium 18, 1-8
Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, dass man allezeit
be-ten und nicht nachlassen sollte, und sprach: Es war ein Richter in einer
Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.
Es war aber eine Witwe in dersel-ben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und
sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht.
Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht
fürchte, noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie
mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir
ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der unge-rechte Richter
sagt! Sollte aber Gott nicht Recht schaffen sei-nen Auserwählten, die zu ihm
Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird
ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wird er
dann Glauben finden auf Erden?
Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer
wieder zu dem Richter und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!
Eine Witwe - weder der Name noch das Alter sind überliefert.
Vielleicht ist sie Anfang 20, eine junge, schöne Frau.
Vielleicht ist sie in biblischem Alter und doch voller Kraft
und langem Atem.
Vielleicht ist sie von weither in unser Land gekommen.
Wie lange sie den Richter genervt hatte, wissen wir nicht.
Und wer der Widersacher war und wo ihr Unrecht passierte
ebenso nicht.
Ihre Geschichte bleibt für uns unter einem Schleier
verborgen.
Sie ist eine der vielen namenlosen Frauen, die an verschiedenen
Orten und zu verschiedenen Zeiten die Erfahrung von Ohn-macht, Gewalt und
ungerechten Strukturen machen.
Wie Hanna Polonska aus Butscha. Bei der Flucht wurde die
23-jährige schwangere Deutschlehrerin so schwer verletzt, dass sie
möglicherweise nie wieder normal laufen wird. Ihr Mann wurde vor ihren Augen im
Auto erschossen, das Baby in ihrem Bauch erlitt so schwere Verletzungen, dass
es während der OP starb. „Es gab kaum einen Teil meines Körpers, der noch heil
war“, sagte Hanna in einem Interview. Die russischen Soldaten, so erfuhr Hanna
wenig später, haben ihr nicht nur ihren Mann und ihr Kind genommen, sondern
auch ihre Wohnung verwüstet und geplündert.
Oder wie die Mutter von Mikhail Shavelski aus Belarus. Ihr
einziger Sohn, ein lutherischer Theologiestudent demonstrierte im Jahr 2020
gegen den belarussischen Präsidenten Lukaschenko, wurde inhaftiert, gefoltert
und floh nach Polen. Nach dem Aus-bruch des Ukrainekriegs hielt er es nicht mit seinem Gewissen vereinbar,
weiterhin in Polen zu studieren, während seine Hei-mat als eine Plattform für
die Angriffe auf die Ukraine miss-braucht wurde. Er zog in den Krieg, um
ukrainische Soldaten zu unterstützen. Am 11. Oktober ist er als Sanitäter bei
dem Ver-such, einen Verwundeten zu retten, selbst verstorben. Seine Mutter wird
ihn nie wieder sehen, die Leiche ihres Sohnes bleibt im Krieg.
Oder die kurdische Mutter aus dem Iran, die ihre Tochter
Mahsa Amini in Teheran verloren hat durch brutale Polizeige-walt. Sie war von
der islamischen Sittenpolizei festgenommen und misshandelt worden, weil
angeblich ihr Kopftuch nicht rich-tig saß. Seit diesem Tag im September halten
die Proteste im Iran an. Frauen und Männer gehen auf die Straße gegen das
theokratische Regime im Iran als auch gegen die durch das Re-gime diktierten
Lebensbedingungen, insbesondere gegen die Auslegung der islamischen
Kleiderordnung. Als Zeichen der So-lidarität mit Amini und aus Protest gegen
die Frauenrechtslage im Iran verstießen manche Demonstrantinnen bewusst gegen
die Kleiderordnung, indem sie ihre Kopftücher abnahmen, diese verbrannten oder
sich öffentlich die Haare schnitten
Hanna Polonska, Mashas und Mikhails Mutter und viele andere
Frauen, Männer und Kinder sind diese Witwen. Sie sind ein Bei-spiel für
Ohnmacht, Hoffnungs- und Hilfslosigkeit. Sie sind Op-fer der Willkür und
Gewalt.
Die namenlose Witwe fordert ihr Recht ein.
Widerständig, wiederholt, couragiert.
Sie steht gegen das Unrecht auf.
Pausenlos bestürmt sie den Richter.
Vom demütigen und stillen Bitten ist hier keine Rede.
Diese Frau hat genug vom Unrecht, von Willkür, von Gewalt
und Korruption. Sie tut was. Laut und klar. Sogar so klar, dass der Richter
Sorge hat, sie könnte ihn schlagen.
Wer verschafft ihr, wer verschafft den Leidtragenden, den
Op-fern dieser Gewalt Recht?
An wen soll sie sich wenden in aller ihrer Not? Warum steht
ihr keiner bei? Wo ist die Familie? Wo ist ihr Clan, der sie schützt in ihrer
Kultur? Vielleicht können wir auch fragen – wo ist die Kirche, wenn Unrecht
geschieht? Wo sind wir?
Solche grundsätzlichen Fragen nach Sinn, nach Schicksal,
nach Sterben und Tod– das sind Themen, die am Ende des Kirchen-jahres in den
Vordergrund treten. Und damit auch die Frage, ob und wo Gott in alledem zu
finden ist und wie wir damit umge-hen, dass Gebete scheinbar ins Leere laufen.
Heute ist der Volkstrauertag, ein Tag, an dem der Opfer vom
Krieg, Gewaltherrschaft und Terror gedacht und aktuelle Will-kürherrschaft
thematisiert wird.
Es ist ein Tag für all die Witwen dieser Welt und das
Unrecht, das an ihnen geschieht. In etlichen Ländern der Welt sind es gerade
Frauen, die den Diktatoren entgegentreten, Gefängnis, Exil ja, sogar den Tod
auf sich nehmen.
Ora et labora – bete und arbeite – das ist das Motto der
Bene-diktiner Mönche. Beten und etwas tun.
Es ist offensichtlich auch das Motto dieser Witwe.
Sie fordert couragiert, bittet und lässt nicht nach.
Nicht demütig und in der stillen Kammer, sondern laut und
ent-schlossen.
So sollen wir es ihr nachmachen.
Wir wissen nicht, wann Gott handelt und ob er handelt.
Und wir wissen auch nicht, warum er das Leid überhaupt
zu-lässt.
Doch: Vielleicht müssen wir die Frage anders stellen:
Nicht warum lässt Gott das alles zu, sondern die Frage,
warum lassen wir Menschen es zu.
So wird die Frage nach Gott zur Frage nach dem Menschen.
Mensch, wo bist du?
Glauben ist nämlich auch nichts Passives. Es ist eine
Tätigkeit für den anderen.
Wir sollen dafür eintreten, dass anderen ihr Recht
verschafft wird. Mit langem Atem wie die fordernde Witwe, die sich nicht
beschwichtigen oder abweisen lässt.
Wir können Gott im Gebet all das Unrecht vor die Füße
werfen, ihm auf die Nerven gehen und gleichzeitig für die Witwen dieser Welt
einstehen.
Und das geschieht sehr engagiert an vielen Orten.
Die Geschichte von Hanna wurde aufgeschrieben. In einem
In-terview konnte sie über ihre Geschichte und das Unrecht spre-chen. Es ist
wichtig, dass es nicht vergessen wird.
Die beiden Pro7 Moderatoren Joko und Klaas gaben ihre großen
InstagramAccounts und somit ihre Stimme den Protestierenden im Iran dauerhaft
zur Verfügung, damit sie die Welt informieren und laut bleiben können.
Und auch die Geschichte von Mikhail bleibt der Welt
erhalten. Seine Hoffnung, seine Entschlossenheit und sein Mut.
Das sind nur diese drei Beispiele neben vielen anderen. Und
ich bin dankbar für meine Kirche, die für die Rechtlosen einsteht und ihnen zum
Recht verschafft. Mit einem Schiff, das Ertrinkende rettet, mit öffentlicher
Unterstützung für die iranischen Frauen – so wie es bei der EKD Synode letzte
Woche geschah, mit finanzieller Unterstützung für diejenigen, die gerade unter
der Krise leiden. Hier und in der Welt. Und ich bin froh und dankbar für die
Menschen, die sich vor Ort, im Kleinen einsetzen - in der Vesperkirche, im
Besuchsdienst, in der Begleitung von Geflüchteten, beim Spenden von Geld, im
Ehren- und im Hauptamt - in der Kirche, in der Diakonie und in der zivilen
Gesellschaft. Jede und jeder kann etwas tun. Und aus dem Gebet können wir Kraft
und Hoffnung schöpfen.
Ora et labora. Bete und arbeite. Amen
Fürbittegebet und Vaterunser
Gott, wir werden nicht aufhören dich mit unserem Gebet zu
nerven und dir die Ungerechtigkeit dieser Welt vor die Füße zu werfen. Höre
uns, wenn wir jetzt zu dir beten:
Wir bitten dich für die Witwen der Ukraine, für die Mütter,
Kin-der, die Soldatinnen und Soldaten. Gott, du siehst das Leid, die Angst und
die Verzweiflung. Das kann dir nicht egal sein, so wie es uns nicht egal ist.
Wir rufen zu dir…
Wir bitten dich für die Witwen im Iran. Für die Mutigen, die
auf der Straße für Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestim-mung kämpfen.
Es kann nicht in deinem Namen geschehen, dass Menschen getötet und erniedrigt
werden.
Wir rufen zu dir…
Wir bitten dich für die Witwen in Russland. Für die Mütter
der Soldaten, für die Mutigen, die gegen das Regime aufstehen, für die
Eingeschüchterten und Hilflosen.
Wir rufen zu dir…
Wir rufen zu dir…
Wir bitten dich für die Witwen dieser Welt. Für Menschen,
die wegen ihrer Hautfarbe, Religion, Sexualität oder Behinderung benachteiligt
und entrechtet werden. Die Angst haben vor Hass und Verfolgung, weil sie
vermeintlich anders sind.
Wir rufen zu dir…
Gott, sei du unsere Kraft, wenn wir klagen und mahnen und
erinnern, wenn wir helfen und uns engagieren, aber auch wenn wir ohnmächtig
sind und verzagen.
Mit Worten Jesu rufen wir zu dir:
Vater unser
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