Prager Frühling im Sommer

 

"Was sind deine Erinnerungen an den 21. August", fragte ich heute morgen am Telefon meine 83-jährige Mutter. Sie schwieg eine Weile und dann sagte sie: "Die Genossen in der Fabrik, in der ich arbeitete, jubelten. Endlich würde alles wieder normal werden." Mit "normal" meinten sie das totalitäre, diktatorische System, in dem sie sich gut eingerichtet und von dem sie sehr gut profitiert haben. Meine Eltern lebten im August 1968 im Osten des Landes und auf Grund von nicht vorhandenen freien Medien bekamen sie erst mit Verzögerung mit, was in Prag eigentlich passierte. Das Radio "Freies Europa" wurde gestört, die Informationen waren unvollständig. Und in Prag ging es sehr schnell. In den Morgenstunden kamen die ersten Panzer des Warschauer Pakts unter dem Deckmantel einer brüderlicher Hilfe. Doch es war kein Akt der Nächstenliebe, sondern eine Okkupation eines Landes, das angefangen hat nach Freiheit und Demokratie zu greifen. Es wurde geschossen, Panzer und LKWs fuhren über friedlich demonstrierende junge Menschen und töteten sie. 137 Tote, etwa 500 Schwerverletzte, Hunderte von Verletzten bis Ende des Jahres - das ist die Bilanz der Sowjetischen Invasion im Jahr 1968. Von den Opfern des Regimes in den darauffolgenden Jahren ganz zu schweigen.

Ich kam im Jahr 1971 auf die Welt. Mitten in die sog. "Normalisation". In eine Zeit, die geprägt war von Unterdrückung, Eingesperrtsein, Verboten und Zensur. Ich war zu jung, um alles zu verstehen. Im Jahr 1989 war ich aktiv an den Protesten der "Samtenen Revolution" beteiligt und seit 1991 lebe ich in Deutschland. Ich kannte die Geschichten meiner Vorfahren nur oberflächlich und an die früheren Besuche der Orte konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Im Sommer dieses Jahres machte ich Urlaub in Tschechien, um mein eigenes Land und auch meine Biografie besser kennenzulernen. Und überall fand ich Spuren der Vergangenheit. Die des Landes und die der Familie. Und sie sind miteinander verwoben. Zeitlich und räumlich. 


Všetaty

Am 16. Januar 1969 verbrannte sich auf dem Prager Wenzelsplatz der tschechoslowakische Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetischen Soldaten ins Land und das Diktat der Sowjetunion. Drei Tage später starb er. In Všetaty besuchte ich sein Elternhaus, das durch das Nationalmuseum zu einem Gedenkort ausgebaut wurde. In einer Ausstellung wird an das Leben von Jan Palach erinnert, an seine Gedankenwelt und seine Prägung. Palach war beeindruckt von dem Mut des Reformators Jan Hus, der am 6.7.1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde. Mit seiner Tat wollte er aufrütteln. Ich war sehr bewegt von diesem Besuch in Všetaty. Ich war erschüttert von der Verzweiflung der damaligen Generation und beeindruckt von dem Mut, gegen das Böse aufzustehen. 

Die Moldau

Jeder kennt die Moldau. Ein Fluss, der an der Bayrischen Grenze entspringt und durch Prag fließt. Ein Fluss, dem der Komponist, dessen Name ich trage, eine Sinfonie widmete. Noch nie war ich an der Quelle und fragte mich, wieso? So ein bedeutender Fluss mit so einem Bekanntheitsgrad. In diesem Urlaub habe ich das verstanden. In einem kleinen Ort namens Kvilda im Nationalpark Böhmerwald beginnt der Wanderweg. Etwa 7 km sind es bis zur Quelle der Moldau. Der Weg führt durch Tannenwälder und hier und da schlängelt sich die noch kleine Moldau. 

Nach ca 3 km stehen drei Panzersperren und eine Informationstafel. Und mir wurde klar: bis 1989 war keine Wanderung zur Moldauquelle möglich. Das gesamte Gebiet befand sich im Grenzgebiet zu Deutschland. Hier wurden 5-10 km breite Schneisen im Wald geschlagen. Der durchgehende Elektrozaun mit 6000 Volt sorgte für Sicherheit und für den Tod von 95 Menschen, die in die Freiheit wollten. Auch die Quelle der Moldau wurde eingesperrt. 


Meine Mutter, Jahrgang 1940, stammt aus einer Unternehmerfamilie. Mütterlicherseits besaß die Familie eine Möbelfabrik in Nové Město na Moravě und väterlicherseits eine Fabrik für Strickwaren in Přerov. Beide Orte sind in Mähren, also im Osten des Landes. Zusammen sind wir hingefahren und ich ließ sie erzählen. 

Přerov

 Das Leben meiner Mama spielte sich hauptsächlich in Přerov ab. Schemenhaft kann sie sich an das Ende des Krieges erinnern. An die sowjetischen Soldaten, die so freudig willkommen geheißen wurden und dann "geklaut haben, was ihnen unter die Hände kam". Bis Ende der 40er Jahre konnte mein Großvater seinen Betrieb aufrechterhalten. Dann wurde er enteignet und das Eigentum verstaatlicht. Die vor kurzem angeschafften Strickmaschinen wurden in den Hof gestellt, wo sie im Laufe der Zeit verrosteten. In das Haus zog das Bürgermeisteramt ein.  "Wir mussten innerhalb von fünf Tagen aus unserer Wohnung ausziehen", erzählt mir meine Mama. "Die Kommunisten haben uns die Wohnberechtigung für unsere eigene Wohnung entzogen", sagt sie und schüttelt fassungslos den Kopf. Nichts durften sie mitnehmen, außer ihre persönlichen Sachen. Die Oma hat heimlich ein paar Stoffe und Fäden mitgenommen, damit sie zumindest für die Kinder Kleidung nähen kann. "Wäre sie erwischt worden, wäre sie wegen Diebstahls verurteilt worden, dabei gehörte es doch alles uns". Wir stehen vor dem Haus und sie zeigt mir, wo ihr Kinderzimmer war. "Wenigstens könnten sie die Fassade putzen ", sagt sie, als sie merkt, dass die Ränder des kommunistischen fünfzackigen Sterns immer noch sichtbar sind. 

Nové Město na Moravě

Wir fahren weiter nach Nové Město na Moravě. Dort lebt Milada, die vier Jahre jüngere Tante meiner Mutter. Ihr Vater, (Großvater meiner Mama) war im ersten Weltkrieg und anschließend in russischer Gefangenschaft. Er war in Kiew, in Samara, in Taschkent. Er erlebte den Holodomor in der Ukraine. "Die Lager waren leer. Wir waren ohne Brot. Ich sah Menschen auf den Straßen sterben." Am 4. Februar 1921 kam er über Persien unter dem Schutz der Engländer aus der Gefangenschaft nach Hause. Seine Tochter (meine Oma) war 8 Jahre alt. In einem Tagebuch schreibt er: "Während der ganzen Zeit an der Front habe ich nichts Gutes erlebt. Im Gegenteil, neben diversen Krankheiten erlebte ich das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann. Alle Schecken des Krieges habe ich gesehen und erlebt."

 Nach dem Krieg baute er eine Fabrik für Möbel auf. Er kannte sich mit seltenen Hölzern aus, baute interessante Möbel und durfte u.a. einen Raum der Prager Burg ausstatten. Seine Möbel stehen in der Wohnung meiner Tante, aber auch bei uns zu Hause. Einmal soll er gefragt worden sein, wo er denn alles gelernt habe. Daraufhin soll er geantwortet haben: "In Russland. Dort gab es nichts, keine Maschinen, kein Werkzeug, ich musste also lernen, kreativ zu sein". Auch er wurde im Jahr 1949 enteignet und seine Fabrik verstaatlicht. Immerhin durfte die Familie in ihrer Wohnung wohnen bleiben. Sieben Jahre später starb er. Seine Enkelin Vesna lebt heute mit ihrer Familie in der Westukraine. 


Hošťálková

Die letzte Station unserer Reise ist Hošťálková. Ein kleiner Ort in der Mährischen Walachei (Ja, wirklich!), nicht weit von der Slowakischen Grenze. Hier haben meine Eltern 16 Jahre verbracht, hier war mein Vater Pfarrer und hier kam ich auf die Welt. Hier erlebten meine Eltern die Ereignisse von 1968. Oder auch nicht erlebten. Weil alle Angst hatten. Weil einer dem anderen nicht vertraute. Weil niemand wusste, was der andere denkt. Weil niemand sprach. Weil es keine Informationen gab. Hier in der Walachei hat meine Mutter den Job verloren, weil sie mit meinem Vater ein Studienjahr in Schottland verbrachte. Hier wurde meine Schwester in der Grundschule (auf dem Bild - die Schule, nicht die Schwester) gemobbt und durfte nicht ins Gymnasium, weil sie Pfarrerstochter war. Hier wurde der Stellenwechsel meines Vaters verhindert, weil "Sie glauben ja wohl nicht, dass Sie einfach so woanders hingehen können". Hier haben der Kommunismus und die Diktatur einen fruchtbaren Boden gefunden. Im Jahr 1979 zogen wir nach Prag. Am Gebäude des Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz waren die Einschusslöcher der Panzer von 1968 immer noch sichtbar. 

Es sind kleine und große Geschichten. Geschichten meiner Familie und Geschichten meines Landes. Sie alle hinterlassen Spuren. In den Wäldern, in den Orten, in den Seelen der Menschen. Und auch wenn Demokratie manchmal mühsam ist, es lohnt sich sie zu schützen und für sie einzugestehen. Bevor es zu spät ist.  



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