Der Engel unter dem Ginsterstrauch

 Da liegt er, unter dem Ginsterstrauch. Gut, dass dieser gerade so ausladend ist und blüht, so spendet er ihm wenigstens ordentlich Schatten. Er scheint etwas zu träumen. Er zittert und schwitzt am ganzen Körper. Er muss doch jetzt was trinken. Ich berühre ihn vorsichtig. Aber er bewegt sich nicht. „Elia, hey. Hörst du mich“. Er reagiert nicht. Das muss ihn alles sehr mitgenommen haben. Kein Wunder. Sie haben ihm auch böse mitgespielt – Isebel, die Ehefrau von König Ahab hat es auf ihn abgesehen und ihn mit dem Tod bedroht. Weil er auf Gott hörte und die Fake News und Verschwörungsmärchen aufdeckte. Und all die prophetischen Verschwörer tötete. Jetzt will sich Isebel rächen. Kein Wunder, dass Elia fix und alle ist. Ich soll ihn wieder aufpäppeln. Ein Fladenbrot und frisches Wasser lege ich ihm hin. Fürs erste zumindest. „Elia, wach auf! Hörst du?“  Ich berühre ihn nochmal an seinem Arm. Langsam öffnet er die Augen. Sie sind müde. Er blinzelt. Die Sonne blendet ihn. Dann sieht er den Krug mit dem Wasser. Er richtet sich auf und nimmt ihn ungläubig in die Hand. Setzt den Krug an seine Lippen und trinkt hastig. Er bricht ein Stück Brot ab und kaut behutsam. Den Mantel unter sich breitet er richtig aus, schiebt sich mehr in Richtung Schatten und schläft wieder ein. Ich setzte mich zu ihm und sorge mit meinen Flügeln für frischen Wind. Ich schaue mir Elia genauer an. Seine Lippen sind rau und trocken. Die Füße haben blutige Blasen. Die Haut ist rissig und seine verschwitzten Haare kleben in seinem Nacken. Er braucht noch mehr Wasser. Kilometerweit rannte er um sein Leben. Er muss völlig erschöpft sein. Und dehydriert. Ich stelle einen zweiten Krug mit frischem Quellwasser in seine Nähe. Eine Weile lasse ich ihn noch schlafen, er braucht die Kräfte. Er muss neue Energie tanken. Sonst schafft er es nicht. „Elia“, ich berühre ihn ein weiteres mal. „Elia, Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ Etwas schneller wird er diesmal wach, schaut sich überrascht um, nimmt den Krug und trinkt mit vollen Zügen. Hastig bricht er das Brot und isst es auf. Noch ein Schluck Wasser. Den Rest gießt er sich in die Hände, wäscht sein Gesicht und fährt sich mit den Händen durch die Haare. Und dann packt er seinen Mantel und läuft los. Ich schaue ihm hinterher. Noch ist es alles nicht zu Ende. Aber bald, bald wird er Gott selbst begegnen. Nicht in den lauten und bedrohlichen Naturgewalten. Nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, auch nicht im Feuer. Erst das zarte und leise Flüstern wird ihn umhüllen und ihm die Kraft zurückgeben, die er für alle anstehenden Aufgaben braucht. Ich schaue ihm ein letztes mal nach. Er ist nur ein kleiner brauner Punkt am Wüstenhorizont. Er wird es gut machen. Da bin ich mir sicher.

Nach 1. Könige 19 - geschrieben zum Michaelistag 2023

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