Die Woche, in der meine Haare grau wurden

Erst mit einem Abstand von vier Monaten kann ich diese Zeilen posten. Zu sehr hat mich die Situation belastet, zu sehr waren die Ereignisse über die Tage und Wochen präsent. Und zu sehr war unsere persönliche Geschichte verknüpft mit der allgemeinen politischen Lage. 
Inzwischen ist Lia in einer neuen Einsatzstelle - in Sizilien. Das Geschehene bleibt dennoch ein Teil ihrer und unserer Geschichte. 


"Mama, hier ist Bombenalarm aber mir geht es gut". Diese Nachricht meiner Tochter bekam ich am 7. Oktober 2023 um 7:19 Uhr. Lia ist seit 22. August als Freiwillige in Israel. An besagtem Wochenende war sie in Jerusalem, wo sie ein Zwischenseminar mit anderen Freiwilligen hatte. Sie besuchte anschließend für ein paar Tage ihre Freundin Sophie, mit der sie vier Jahre im Internat war. 

"Schon wieder. Müssen in Bunker", unterbrach sie unseren Chat, in dem ich wissen wollte, wie es ihr geht und nebenher wie eine Verrückte nach Informationen im Netz suchte. Ich zitterte am ganzen Körper, drehte innerlich durch und wartete auf eine Nachricht von ihr. DAs kann doch nicht sein! Hoffentlich nur ein Fehlalarm oder einer von diesen Anschlägen, die in Israel häufig an der Tagesordnung sind. Hoffentlich. Und wenn nicht? Deutschlandfunkt meldet um 7.14 Uhr "Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel". Die ganze Tragweite dieses Terrorangriffs war in diesem Moment noch gar nicht klar. Um 9:31 Uhr konnten wir endlich wieder facetimen. Lia saß mit ihrer Freundin im Zimmer und ich sah zwei völlig verängstigte junge Frauen und mir war zum Heulen zu Mute. Sie sprachen von ihren Begegnungen und Gesprächen im Bunker. Sie konnten die Raketen hören und die Geräusche, die das Abwehrsystem beim Abschießen der Raketen macht. Sie haben sich selbst Mut zugesprochen und sich versichert, in der Nähe der Knesset seien sie sicher. Ich höre plötzlich die Sirenen durch das Handy heulen. "Wir müssen wieder", sagten sie und beendeten das Gespräch. Ich fühle nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Was bin ich froh, dass sie wenigstens zusammen sind. 

Etwa zehn mal sind wir an diesem Tag per Facetime verbunden. Der Chat lief den ganzen Tag ohne Unterbrechung. Wir versuchten auch über Belangloses zu sprechen, sie kochten sich ein Mittagessen und verfolgten auf der Israelischen App "Home Front Command alerts" die Orte, wo aktuell Raketen einschlagen. Währenddessen erreichten mich die ersten Nachrichten von Freunden. Meine jüdische Freundin Juna schrieb um 15 Uhr: "Ich weiß, dass man sich gut kümmern wird, hoffe aber doch, dass sie nach Hause kommt. Ich fürchte, das ist nicht so schnell vorbei". Sie war die erste, die den Ernst der Lage geäußert hat und die Möglichkeit, dass Lia ihren Freiwilligendienst würde abbrechen müssen. Diese Befürchtung wurde schon am Abend durch die Verantwortlichen der Entsendeorganisation FÖF bestätigt. Noch wolle man abwarten, was der nächste Tag bringe, aber es wurde bereits eine Krisensitzung einberufen.

Um 20:53 Uhr facetimten wir zum letzten Mal an dem Tag. Ich sang Lia das Gutenachtlied, dass ich meinen Kindern immer zum Einschlafen gesungen habe. Wir weinten beide. Und dann beteten wir. 

Und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und änderte fast alles an dem Gottesdienst, den ich am nächsten Tag in der Stephanuskirche feiern sollte. Psalm 122 statt Psalm 1. Eine neue Fürbitte, andere Lieder. Wie dankbar war ich für den Kirchenmusiker Marcel, der sich am Sonntag kurzfristig auf die Änderungen einließ und mit mir passende Lieder suchte. Die Predigt blieb weitgehend gleich. Es ging doch um die 10 Gebote und dass man auch nicht töten soll. Und um das Wort Jesu: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst". 

In der Nacht träumte ich viel durcheinander. Von meinen Kindern, von Bomben, von Flugzeugen  reicher Menschen, die ich jetzt so brauchen würde, um mein Kind nach Hause zu holen und von meiner eigenen Kindheit. Ich wachte viel zu früh und völlig erschöpft auf.

Die Nacht auf den 8. Oktober war ruhig in Jerusalem. Doch die Nachrichten wurden immer beunruhigender. Zwei kurze Facetimes mit Lia, bevor ich mich auf den Weg zum Gottesdienst machte. Trotz des Regens nahm ich das Fahrrad. Ich brauchte den Weg, die Frische Luft und auch den Regen. Der Himmel weinte an diesem Morgen mit. In der Kirche zündete ich zwei Kerzen an - für Lia und für Sophie. Und stellvertretend für alle Betroffenen. Kurze Absprache mit den am Gottesdienst Mitwirkenden. Erst im Talar kam meine Konzentration wieder. Am Altar sprach ich ein kurzes Gebet. Trotz allem hat mir der Gottesdienst sehr gut getan. Ich fühlte Trost und Kraft. 

Facetime mit Lia. Sie muss schnellstmöglich zu ihrer Einsatzstelle zurückkehren. Mit dem Taxi durch Jerusalem zum Deutschen Institut und von dort gemeinsam mit den anderen mit dem Zug nach Haifa. Es gab wenig Situationen im Leben, in denen ich mich so hilflos fühlte. Panisch und voller Angst um mein Kind. Gleichzeitig Stärke und Entschlossenheit ausstrahlen, um Lia nicht noch mehr zu  verunsichern. Die Nachrichten wurden immer dramatischer. Im Netz kursierten grauenvolle Bilder und Videos von Verschleppten und Toten. In meinem Kopf vermischte sich alles und ich war nicht in der Lage einzuschätzen, wie gefährlich dieser Weg nach Haifa sein kann. Und ich schrieb Lia: "Vertraue auf dein Gefühl, auf die israelische Projektleiterin und FÖF". Und ich betete drei Stunden lang, bis sie alle in Sicherheit waren. 

"Gerade fliegen ganz viele military aircrafts über uns nach Gaza. Ich kann seit Stunden nicht schlafen", schrieb Lia am Montag um 5:44 Uhr. Die Zahl der Entführten steigt auf 500, Israel schlägt zurück und greift Ziele der Hamas in Gaza an. Eskaliert es weiter? Ich soll gleich nach Stuttgart fahren, um als Prüferin beim 2. Examen dabei zu sein. Enno, mein Partner, kümmert sich solange um Lia und spielt mit ihr online "Stadt, Land, Fluss". Manchmal ist Corona auch ein Segen. Er muss im Bett bleiben und ist jederzeit für Lia erreichbar. Ich prüfe die Vikarinnen und Vikare und sie machen es gut. Ich freue mich sehr über so einen Nachwuchs in unserer Landeskirche. Und innerlich zittere ich vor Sorge um Lia. Wir facetimen nach dem Ende der Prüfungen. Andere Organisationen schicken ihre Freiwilligen nach Hause. Sophie fliegt am Mittwoch. Ungarn holt seine Leute ab. Vom Auswärtigen Amt noch keine Informationen. Ich fahre nach Prag. Dort soll ich den Reutlinger Pfarrkonvent begleiten. Lia darf mit einer Seelsorgerin sprechen. Und sie schreibt in ihrem Blog über die Erlebnisse der letzten Tage. In Lias WG ist die Anspannung spürbar. Am nächsten Tag sollen sie in ihre Einsatzstelle fahren, um Pakete für die Soldaten zu packen. Ich schreibe eine Nachricht an den Verantwortlichen bei FÖF. Mit meiner Schwester Pavla, die sich zufällig auch gerade in Prag befindet trinken wir ein Bier. Mein Handy liegt daneben. Ich fühle mich leer. 

"Eigentlich brauchen sie uns hier nicht", schreibt Lia am Dienstagmorgen aus ihrer Einsatzstelle. Viele Einheimische haben sich als Freiwillige gemeldet, um beim Packen mitzuhelfen. Lia malt Bilder mit dem Kleinen Maulwurf. "Haschuma haktana" schreibt sie dazu auf Hebräisch. Der Sohn der Leiterin wird einberufen während die Kinder in Lias Einsatzstelle spielen und tanzen. Dann kommt der Anruf von FÖF: "Besorgt euch ein Visum nach Jordanien. Am Mittwoch stellt das Auswärtige Amt mehrere Busse nach Jordanien zur Verfügung. Vielleicht kommt ihr auf die Liste". Zu viert versuchen wir auf der Jordanischen Seite ein Visum zu ergattern. Die Seite ist völlig überlastet. Enno schafft es am Ende. Jetzt muss nur noch das Auswärtige Amt antworten. Lia darf nur ein Gepäck mitnehmen. Was soll sie da lassen? Die Prioritäten verschieben sich: "Mama, das ist alles nur Materielles. Eigentlich brauche ich gar nichts". Ich sitze in Prag in der Straßenbahn und fahre zum Bürgeramt, um einen neuen Ausweis machen zu lassen. Sie machen dort ein Foto von mir. Ich sehe furchtbar aus. Den letzten Ausweis machte ich vor exakt 10 Jahren. Da sah ich auch schlimm aus. Meine Schwester lag im Sterben. Ich döse vor mich hin. Plötzlich kommt eine Nachricht von Lias Patin und meiner besten Freundin Sibylle: "Können wir heute mal telefonieren?" Ich rufe sie sofort zurück und sie fragt: "Wie geht es dir?" Ich breche in Tränen aus. Ich weiß es selbst nicht. Weder ich noch die anderen haben mich sowas gefragt. Sibylle ist erleichtert, dass Lia nach Hause kommt. Und dann die erlösende Nachricht - Lia hat einen Platz in dem Bus bekommen. Und die schlechte Nachricht gleich hinterher: Ihre beiden Bewohnerinnen sind nicht auf der Liste. Was für eine schreckliche Situation. Wir beten miteinander. "Ich möchte mir in Deutschland eine Friedenstaube tätowieren lassen", schreibt Lia um 22:23 Uhr. Um 5:30 Uhr soll sie abgeholt werden.


Schlaflose Nacht. Alle 20 Minuten wache ich auf und schaue auf die Uhr. Um 4:37 Uhr schicke ich Lia ein Herz. Sie schreibt: "Ich bin wach. In 20 Minuten geht es los. Ich zitter am ganzen Körper". "Es wird alles gut sein", schreibe ich ihr zurück. Und dass ich bete und an sie denke. Und dass ich sie lieb habe. Danach bekomme ich keine Antwort mehr. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. wo ist sie gerade? Hat die Übergabe geklappt? Ich versuche anzurufen, sie reagiert nicht. Um 5:51 Uhr die erlösende Nachricht - "sind auf dem Weg nach Tel Aviv. Wahrscheinlich fliegen wir am Freitag von Amman über Wien nach Frankfurt". Ich weine vor Erleichterung. Und vor Angst. "Wir sind alle in einem Bus. Alles ist gut gegangen", schreibt Lia. Fünf von den sieben Freiwilligen sind auf dem Weg nach Jordanien. Über den Live-Standort kann ich die Fahrt mitverfolgen. Meine kluge Tochter hat bei dem ganzen Stress daran gedacht, sich eine e-sim Karte für Jordanien zu besorgen. Ich bin beeindruckt. Vier Busse mit Deutschen fahren quer durch Israel Richtung jordanische Grenze. Ob alles gut geht. Mein Kopf dreht durch. Sind solche Bus-Konvois nicht eine willkommene Zielscheibe für Anschläge? Ich lasse Lia in Ruhe und höre nicht auf zu beten. Versuche mich auf die Reutlinger zu konzentrieren, die in einigen Stunden nach Prag kommen. Ein Gesprächspartner für den Konvent hat wegen Krankheit kurzfristig abgesagt. Ich versuche einen Ersatz zu bekommen In Haifa ist Bombenalarm. Lias Mitbewohnerinnen haben noch keinen Rückreiseplatz. Um 17:22 Uhr schreibt Lia: "Wir sind angekommen. Tausend Schutzengel haben uns begleitet" Bei den Schneller Schulen in Jordanien dürfen die Freiwilligen nun ein bisschen zur Ruhe kommen. Ich kümmere mich um die Reutlinger. Wir gehen gemeinsam essen. Es gibt Lendenbraten mit böhmischen Knödeln. Mit meinem Kollegen Stephan laufen wir durch die nächtliche Stadt zum Hotel. Die Prager Burg ist außergewöhnlich schön beleuchtet. Das Tanzende Haus tanzt in der Dunkelheit. Das obligatorische Foto bleibt diesmal aus. 

Die Nacht ist ruhiger, ich bin trotzdem müde. "Wir dürfen nicht aus dem Gelände raus, aber wir dürfen uns die Schule anschauen", schreibt Lia am Donnerstag um 7:35 Uhr. Ich fahre mit den Reutlinger in die Kirchenzentrale und gebe sie an den Stadtführer ab. Um 15 Uhr treffen wir uns zum Gespräch mit der Kirchenleitung der EKBB. In der Zwischenzeit schreibt Lia: "Ich finde das so krass, dass es in Deutschland Hamas Unterstützer gibt". Wir facetimen. Sie schickt Videos von Jordanien. Die Stimmung ist besser. Am Freitag um 16.30 Uhr fliegen sie nach Wien. Mit den Reutlingern besuchen wir die Diakonie, die sich um Geflüchtete kümmert. Wir sprechen über die Ausländerfeindlichkeit der Tschechen und die Versuche der Diakonie durch Begegnungen Vorurteile abzubauen. Ich dolmetsche. Die ukrainische Mitarbeiterin sagt: "Wir wollen doch alle im Frieden miteinander leben und voneinander lernen". Ich habe so meine Zweifel. Und dann gibt es ukrainischen Borschtsch und ukrainisches Knoblauchbrot. Ich gehe früher ins Hotel und lege mich erschöpft ins Bett. Morgen schon werde ich Lia in den Arm nehmen können.

In den sozialen Medien positionieren sich Menschen mit Bildern, mit Texten. Israelische Flaggen. Palästinensische Flaggen. Ich schaue es mir an und mache nichts. Meine Kraft ist zu Ende. 

Ich frühstücke mit Stefan, bespreche mit den Verantwortlichen des Pfarrkonvents den Tag und verabschiede mich von meinen Reutlinger Kolleginnen und Kollegen. Sie werde es auch ohne mich schaffen. Lia ist wach. Sie ist traurig und nervös und erzählt von der Gastfreundschaft der Menschen in Jordanien: "Die arabische Welt ist echt so anders. Alle sind so liebevoll. Aber ich vermisse die Hebräische Sprache". Ihre beiden Mitbewohnerinnen aus Haifa fliegen beide noch am gleichen Tag. Lia ist erleichtert. Alle haben es geschafft. "Bin auf dem Weg zum Flughafen", schreibt sie um 10:04 Uhr. Ich kaufe noch ein paar von Lias tschechischen Lieblingsprodukten, fahre bei meiner Mama vorbei, um mich zu verabschieden und mache mich auf den Weg nach Frankfurt. Die Fahr ist anstrengend. Ich muss oft Pausen machen. Um 15.17 Uhr geht der Flug von Amman los. Ich schalte den Flightradar an und verfolge die Strecke. Sie fliegen komplett um Israel herum. Enno ruft an, dass er wieder negativ ist und mit dem Zug auf dem Weg nach Frankfurt ist. Ich heule vor Erleichterung. Wenigstens muss ich nicht allein durch die Nacht fahren. Um 19:20 Uhr ist der Flieger in Wien. Mit Verspätung. Sie schaffen den Anschlussflug nach Frankfurt nicht. Ich stehe an der Raststätte, rauche eine Zigarette und heule. Es wird langsam dunkel. Enno ruft an: "Wir können in Hanau bei Freunden übernachten". Ich heule weiter und kann gar nicht weiter fahren. Lia schreibt: "Ich glaube, da testet jemand, wie geduldig wir sind." Sie ist aber gut drauf. Vielleicht ist dieses langsame Heimfahren gut für ihre Seele. Dass sie auch mitkommt nach dieser krasser Woche. Eine Woche, die mir graue Haare beschert hatte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst. "Ich bin froh, dass ich in Sicherheit bin", sagt mir Lia am Telefon. "Das ist gut. Für mich. Ich habe das Privileg, weil ich einen deutschen Pass habe. Dafür bin ich dankbar. Aber in Israel ist nichts gut", fügt sie hinzu.

Am Samstag um 16.30 Uhr landet der Flieger in Frankfurt. Zwei Stunden später halten wir uns im Arm. Eine Woche nach dem schrecklichen Terroranschlag der Hamas auf Israel. Und wir weinen. Beide. 


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