Studienreise ins Baltikum
Im Juni durfte ich an einer 1-wöchigen Reise des Prälaten Markus Schoch mit den Dekaninnen und Dekanen der Prälatur Reutlingen teilnehmen. Für mich war Baltikum nicht neu, aber in dieser Konstellation wieder interessant. Für die Homepage der Prälatur und das Magazin des GAW "Evangelisch weltweit" habe ich einen Bericht geschrieben:
Nach anfänglichen Reisekomplikationen ist die 25-köpfige
Gruppe in Tallinn angekommen. Die Hauptstadt Estlands ist eine kleine und
bezaubernde Stadt an der Ostsee. Nach einer kurzweiligen Stadtführung trafen
sich die Pfarrer*innen mit dem ehem. Braunschweiger, inzwischen estnischen,
Pfarrer Matthias Burghardt und sprachen mit ihm über die Volkskirche,
Pfarrersgehälter und die Bedrohung aus Russland. Die Grenze zu Russland, die
auch die Schengen und EU- Grenze ist, ist 294 km lang. Schon vor dem Krieg in
der Ukraine war das Verhältnis zu Russland auf Grund der historischen
Erfahrungen von Misstrauen geprägt. Nun hat sich die Situation auch in Bezug
auf die russischsprachige Minderheit weiter verschärft. Ein Sonnenuntergang um
22.30 Uhr in diesen Breitengraden macht die Nacht nicht dunkel.
Riga - Lettland
„Selig sind, die da dürstet und hungert nach
Gerechtigkeit“ - mit einer Andacht zu den Seligpreisungen und Nawalnys
Schlusswort vor dem Moskauer Stadtgericht startete der dritte Tag. Nach einer
Stadtbesichtigung stand das Okkupationsmuseum auf dem Programm. Die Geschichte
Lettlands mit Unterdrückung, Deportationen und mehrfacher Okkupation ist in
einer Ausstellung eindrucksvoll dokumentiert. Es war eine wichtige Vorbereitung
für das anschließende Gespräch mit dem deutschen Botschafter Christian Heldt in
der deutschen Botschaft. Mit klaren Worten sprach er über die Situation im
Baltikum, über Russland und Europa. Die jahrelange Erfahrung und die ca. 280 km
lange gemeinsame Grenze bereiten den Letten große Sorgen. Trotz Lettlands
Mitgliedschaft in der NATO ist die Angst vor Russlands Angriff allgegenwärtig.
Frauenordination in Lettland
Lettische Kirche auf dem Land
Nach drei inhaltsreichen und nachdenklichen Tagen sollte
der nächste Tag mit mehr Leichtigkeit gefüllt sein. Später aufstehen, später
frühstücken. Besuch des Handwerkermarktes in Kalciems-Viertel, auf dem
Hanfschokolade, Erdbeeren und andere Snacks eingekauft werden konnten. Entlang
der Küste ging es ins Kurland nach Tukums zum Gespräch mit dem Propst der
lettischen lutherischen Kirche Marcis Zeiferts und seiner Frau Ieva, die ebenso
Theologin ist, aber auf Grund des Ordinationsverbots für Frauen in einem zivilen
Beruf arbeitet und sich in der Kirchengemeinde ehrenamtlich in der Kinderkirche
und im Frauenkreis engagiert (wahrscheinlich neben vielen anderen Aufgaben
einer Pfarrfrau.) Der Propst stellte seine Gemeinde vor, sprach über die
Kooperationen mit der Kommune und die allgemeine Veränderung der Kirche. Leider
erwähnte er mit keinem Wort die Frauenordination und niemand aus der Gruppe
stellte ihm diese Frage.
Seine Frau Ieva sprach über die Ukraine Hilfe, die sie
seit 2020 leitet. Ihre Worte waren wie ein Stachel: „Nach dem Ausbruch des
Krieges waren wir wie paralysiert. Wir konnten gar nicht denken und arbeiten.
Dann fingen wir mit praktischer Hilfe an. Inzwischen haben wir 5000 Kerzen
gegossen und 160 qm Tarnnetze hergestellt und an die Front in die Ukraine
geschickt. Und es ist mehr, als nur Netze herstellen. Es ist netzwerken im
wahrsten Sinne des Wortes. Wir treffen uns, erzählen uns Geschichten und unterstützen
uns gegenseitig. Wir haben Erfahrungen mit Krieg und Okkupation. Im Krieg kann
man Menschlichkeit am Umgang mit Frauen und Kindern messen. Unsere Mütter und
Großmütter haben uns Geschichten erzählt. Wir selbst sind in der Sowjetunion
großgeworden und sehen, was in der Ukraine passiert. In unserem Land tun wir
so, als wäre alles ok – wir sind ja in der EU und in der Nato. Wir leben, als
wäre alles OK, aber wir haben Angst und wir wissen, es kann alles passieren.“
Ein kurzer Abstecher an die Ostsee haben die Gedanken ein
bisschen beruhigen lassen, aber diese Frage werden wir mit nach Hause nehmen:
Wann fangen wir – wann fängt der Westen endlich an, Menschen in den baltischen
Staaten zuzuhören und ihre Erfahrungen und reale Ängste ernstzunehme?
Deutsche Evangelische Lutherische Gemeinde in Riga
Mit einem Abendmahlsgottesdienst in der Petrikirche ging
die Studienreise der Prälatur Reutlingen zu Ende. Prälat Markus Schoch predigte
zum Text aus dem Epheserbrief: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und
Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“. Fast
prophetisch ging er in seiner Predigt darauf ein, dass wir als Hausgenossen
Gottes miteinander auskommen müssen, ob es uns gefällt oder nicht. In der
Gesellschaft, in der Politik aber auch in der Kirche. Wir müssen unterschiedliche
Positionen, unterschiedliche Frömmigkeiten und unterschiedliche Meinungen
aushalten. Was uns verbindet, ist Jesus Christus - der Eckstein. Da waren die
Ergebnisse der Europawahl noch nicht bekannt.
Für die meisten Teilnehmenden war es eine erste Begegnung
mit diesem Teil Europas. In einer Feedbackrunde kamen verschiedene Aspekte der
Reise zu Tage.: Dankbarkeit über die Vielfalt in der württembergischen
Landeskirche – „selbst, wenn sie manchmal anstrengend ist“. Kopfschütteln, dass
es im 21. Jahrhundert noch möglich ist, eine Frauenordination zurückzunehmen.
Neues Bewusstsein für die Möglichkeiten und Ressourcen, die uns in Bezug auf
die Bildungsarbeit zur Verfügung stehen. „Wir sollten weniger darüber klagen,
was nicht mehr geht.“ Auch die politische Situation und die reale Angst vor dem
Krieg hat einige zum Nachdenken gebracht: „Hier wird gerade Geschichte
geschrieben und mitentschieden, wie es mit uns weitergeht“. Einer der älteren
Teilnehmenden fasste es zusammen: „Wir aus der Nachkriegsgeneration leben in
einer Blase, sind zu weit weg, zu abgehoben oder wollen die Realität nicht
wahrhaben.“
Diese Reise war eine gelungene Mischung mit Begegnungen
aus dem politischen und kirchlichen Leben im Baltikum und hinterlässt bei den
meisten Teilnehmenden bleibende Spuren.
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