Armenien - Zwischen Gastfreundschaft und Geschichte

Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben mit echten Menschen Russisch gesprochen. Neun Jahre lernte ich widerwillig die Sprache der „Besatzer“ und Russisch war auch eines der Abiturfächer. Ich habe bestanden. Aber (lieben) gelernt habe ich diese Sprache nicht. Bis zu dem Tag, an dem wir unsere Reise nach Armenien beschlossen. „Vielleicht hilft es uns unterwegs“, dachte ich mir und fing fleißig an, mit Duolingo zu lernen. Ich war über meine eigenen Fortschritte erstaunt und es zeigte sich, dass meine Russischkenntnisse nicht nur hilfreich waren, sondern sie öffneten uns viele Türen. Auch wenn ich nur die kyrillische Schrift lesen kann, aber nicht die armenische. Die armenische Schrift wurde im 5. Jahrhundert von Mesrop Mashtots entwickelt, um die armenische Sprache und Kultur zu bewahren. Auf Wunsch des Königs Vramshapuh schuf Mashtots ein eigenes Alphabet mit 36 Buchstaben. Das Matenadaran in Jerewan ist das berühmte Museum und Archiv für alte armenische Manuskripte und Schriften. Es wurde 1957 gegründet und beherbergt eine der weltweit größten Sammlungen mittelalterlicher Handschriften. Zu sehen sind dort über 23.000 Manuskripte und etwa 300.000 Dokumente, darunter religiöse Texte, historische Werke, wissenschaftliche Schriften und medizinische Aufzeichnungen. Besonders bemerkenswert sind die kunstvoll verzierten armenischen Evangelien und philosophische Werke, die auf Pergament geschrieben sind. Das Matenadaran ist nicht nur ein Museum, sondern auch ein Zentrum für die wissenschaftliche Forschung zu alten Schriften und armenischer Kultur.

Fünfzehn Länder gehörten zur ehemaligen Sowjetunion. Ich musste sie in der Schule auswendig lernen. Wo sie genau liegen, konnte ich mir kaum merken, von den Namen der Hauptstädte ganz zu schweigen. Dass diese Länder alle auch eine eigene und sehr unterschiedliche Geschichte haben, habe ich erst später verstanden. Und dann kam das Jahr 1989 und nach und nach wurden aus diesen ehemaligen Sowjetländern eigenständige Staaten. Die Befreiung und die Unabhängigkeit waren nicht überall friedlich abgelaufen. Armenien ist eines dieser Länder, die sich auf den Weg zur Selbstständigkeit gemacht haben.

Knapp 30.000 qm hat Armenien und ist somit halb so groß wie mein Heimatland Tschechien. Es liegt eingequetscht zwischen der Türkei, Georgien, Aserbaidschan und Iran. Keine einfache politische Lage. Das erste Volk der Welt, das im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion erklärte, war Jahrhunderte ein Spielball zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich. Der Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs ist ins allgemeine Gedächtnis der Armenier eingebrannt. Das Genozid-Museum in Jerewan ist ein bewegender Ort, der an den Völkermord an den Armeniern erinnert. Es wurde 1995 eröffnet und befindet sich am Tsitsernakaberd-Hügel, von dem aus man einen weiten Blick auf die Stadt hat. Das Museum dokumentiert die systematische Vernichtung von etwa 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich zwischen 1915 und 1923. Durch Fotos, Zeugnisse und Ausstellungen wird die Tragödie eindrucksvoll dargestellt. Der angrenzende Gedenkkomplex mit einem Denkmal bietet einen stillen Ort zum Nachdenken und Erinnern.


Drei Kriege in den letzten dreißig Jahren haben 15.000 Leben an der armenischen und doppelt so viele an der aserbaidschanischen Seite gekostet. Viele armenische Fahnen wehen auf dem Soldatenfriedhof in Jerewan, der im Volksmund Heldenfriedhof genannt wird. Er dient als zentraler Bestattungsplatz getöteter Angehöriger der armenischen Streitkräfte aus den drei Kriegen um Arzach. „Wir leben von einem Krieg zum anderen“, sagen die Menschen.

Beim Reisen durch das Land spürt man wenig von dieser Grundangst. Die Menschen sind hilfsbereit, gastfreundlich und an Fremden interessiert. Und wenn sie auch noch auf Russisch angesprochen werden, dann steht schon mal eine Flasche selbstgemachten Wein auf dem Tisch. In Armawir, wo wir an einem Gottesdienst der Arzach-Geflüchteten teilnehmen durften, wurden wir reichlich verköstigt. 


Das würzige, luftgetrocknete Rindfleisch, mariniert mit Knoblauch, Paprika und anderen Gewürzen, nennen die Armenier Basturma und es ist ein typischer Snack zum Lavash-Brot und Schafskäse. Frische Kräuter, wie Petersilie, Koriander und Dill, fehlen nie auf dem Tisch. Auch das aus dem Nahen Osten stammende Tabouleh probierten wir – ein erfrischender Salat aus fein gehackter Petersilie, Bulgur, Tomaten, Zwiebeln und frischem Zitronensaft, gewürzt mit Olivenöl, Pfeffer und Salz.

Der Sewansee ist der größte Süßwasser-Hochgebirgssee in der Region. Er ist fast doppelt so groß wie der Bodensee und ist das einzige große Wasserreservoir im Südkaukasus. Der See ist von Bergen umgeben und bekannt für seine malerische Landschaft. Auf der Halbinsel Sewan steht das berühmte Kloster Sewanawank. Wir bereisten den See vom Osten her. Dazu überquerten wir den Selimpass (2.500 m), der mit der gut erhaltenen Karawanserei von Selim aus dem 14. Jahrhundert ein Teil der historischen Seidenstraße ist und fuhren an der Nordseite des Sees, an der aserbaidschanischen Grenze bis nach Sewan. Diese Gegend ist nur sehr wenig touristisch erschlossen und arm.

An der Westseite des Sewansee ist mehr los. Kleine Verkaufsstände, Touristen und klickende Kameras auf der Halbinsel mit Kloster Sewanawank. In den gut besuchten Food Courts in der Nähe gibt es geräucherten Fisch, frischgebackenes Brot Lavash und armenischen Wein. Entlang der Straßen sieht man alte und zerfallene Fabriken aus der Sowjetzeit. Kommt man näher an den See, sieht man viel Müll. Die Straßen sind ein Abenteuer für sich. Kilometerlange Autobahnen in Richtung Südost wechseln urplötzlich zu einer staubigen Off-Road-Straße. Zu manchen Orten wären wir ohne unser Lada Niva gar nicht hingekommen. Fährt man durch das Land, wird die Armut ganz konkret. Alte Häuser mit rostigen Blechdächern, marode Hütten bzw. Container, die ursprünglich als Notunterkünfte beim Erdbeben im Jahr 1988 errichtet wurden. Bei Wintertemperaturen bis zu -40 Grad wird mit getrocknetem Kuhmist geheizt. In vielen Regionen fehlen Einkommensmöglichkeiten. Seit den Kriegen in der Ukraine und in Arzach bleiben viele Touristen weg. Es waren nur wenige Orte, an denen wir vielen Touristen begegnet sind. Meistens waren es Einheimische.



Ganz im Südosten des Landes haben wir wunderschöne Natur gesehen, haben die 160 m lange Hängebrücke überquert, sind mit der Seilbahn Wings of Tatev zum Kloster gefahren und die Höhlenstadt Old-Goris besucht. Eine Gegend, für die das Außenministerium eine teilweise Reisewarnung ausgegeben hat und die jetzt fast verwaist ist. „Die Menschen kommen nicht mehr hierher, sie haben Angst“, sagen uns die Einheimischen, die dauerhaft in dieser Unsicherheit leben. Goris war im vergangenen Jahr die Durchgangsstadt für die 120.000 Armenier, die aus Arzach vertrieben wurden. An der Grenze zu Aserbaidschan fallen immer wieder Schüsse.


Und nicht zu vergessen - der Berg Ararat: 

Der Berg Ararat ist ein zentrales Symbol der armenischen Kultur, Geschichte und Identität. Obwohl er heute auf türkischem Staatsgebiet liegt, wird er von Armeniern als heilig angesehen und oft als "Mutterberg" bezeichnet. Der Ararat ist eng mit der armenischen Mythologie und dem Christentum verbunden, da er laut Überlieferung der Bibel der Landeplatz der Arche Noah war. Für viele Armenier verkörpert er auch den Schmerz des Verlustes und die Hoffnung auf Wiedervereinigung mit den historischen armenischen Gebieten.

Jerewan, die Hauptstadt Armeniens im Westen des Landes, zählt etwa 1 Million Einwohner und wächst schnell. Im Zentrum ähnelt sie vielen westlichen Städten: Das Leben pulsiert, die Geschäfte haben bis spät abends geöffnet, und es wird getanzt und gefeiert – jedoch nur für diejenigen, die sich das leisten können. Denn etwa 30 % der Armenier leben unterhalb der Armutsgrenze, und mehr als die Hälfte hat keine soziale Absicherung. Außerhalb des Zentrums ist die Armut deutlich sichtbarer. Viele Gebäude sind alt und baufällig, mit rostigen Blechdächern und verfallenden Fassaden. Die Infrastruktur ist schlecht, Straßen sind oft unbefestigt, und es mangelt an grundlegenden Dienstleistungen wie sauberem Wasser und Abfallentsorgung. Viele Menschen leben hier in prekären Verhältnissen und haben keinen Zugang zu sozialen Sicherheitsnetzen. Hier finden sich die Märkte, auf denen Einheimische ihre Waren anbieten: bunte Kräuter und Gewürze, Nüsse und Trockenfrüchte, Honig, Marmelade und typische armenische Süßigkeiten, wie Gata, Churčxel oder Pakhlava.

Die Frage der Menschenrechte ist schwierig. Gewalt ist ein strukturelles Problem. Über Kindesmissbrauch wird nicht öffentlich gesprochen, häusliche Gewalt wird nicht verfolgt, es gibt keine sicheren Räume für Frauen. Häufig werden Frauen zur Abtreibung gezwungen, wenn sie mit einer Tochter schwanger sind. „In unserer Tradition muss das erste Kind ein Junge sein“, haben uns mehrere Menschen berichtet. Die Istanbul-Konvention wurde noch nicht ratifiziert. In den Familien herrscht nach wie vor das Patriarchat. Die Frau hat eine untergeordnete Rolle. Dass ich Pfarrerin bin, war für manche Frauen eine echte Überraschung. „Ich wusste gar nicht, dass so etwas überhaupt möglich ist“, sagte eine junge Frau zu mir. „Aber das macht mir gleichzeitig Hoffnung!“

Etwa 92 % der Armenier gehören der armenisch-apostolischen Kirche an, die zur nationalen Identität gehört. Die Religionsfreiheit ist in der Verfassung garantiert. Etwa 1 % sind Protestanten, 0,8 % Jesiden, und es gibt zwei jesidische Tempel im Land.

Die Evangelische Kirche Armeniens (ECA) entstand im 19. Jahrhundert durch Missionsbewegungen aus den USA und der Schweiz. Der Völkermord führte zur Gründung von Diasporagemeinden, die die Kirche weltweit verbreiteten. 1994 wurde die ECA nach der sowjetischen Ära neu gegründet und hat heute 22 Gemeinden in Armenien. Sie betreibt auch sieben Bildungszentren. Die ECA hat ca. 1.450 Mitglieder, aber eine größere Zahl von Sympathisanten, die am Gemeindeleben teilnehmen, besonders durch Kinder- und Jugendprogramme.

Armenien hat mich sehr beeindruckt. Trotz aller Schwierigkeiten ist es ein Land voller Herzlichkeit, Kultur und Geschichte. Eine Reise dorthin verändert den Blick auf die Welt.

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