35 years ago

Das Leben in der Tschechoslowakei vor 1989 war ein Leben ohne Freiheit. Wir konnten nicht frei sprechen, reisen oder glauben, woran wir wollten. Presse und Medien wurden kontrolliert, Worte zensiert, und „falsche“ Meinungen führten zu Verhören, Arbeitsplatzverlust oder Problemen für die Kinder in der Schule, ja, bei manchen sogar zur Inhaftierung. Bewegungsfreiheit? Nur mit Genehmigung. Religion? Geduldet, aber unter ständiger Beobachtung.
Als Pfarrerskinder spürten wir das bei jedem Schritt. Das Telefon wurde abgehört, Besucher wurden überwacht, unser Vater wurde immer wieder aus dem Nichts zum Verhör abgeholt. Es gab Schikanen, Hindernisse bei der Schulauswahl und sehr viel Willkür. Wir wussten, dass über uns mehr bekannt war, als uns lieb war. Absurderweise schrieb mir gestern meine Cousine und wollte mir Informationen über Menschen geben, die unsere Eltern und unsere Familie bespitzelt hatten. Ich habe dankend abgelehnt. „Was bringt mir das, wenn ich weiß, wer mein Vertrauen missbraucht hat?“, sagte immer unser Vater und lehnte es ab, seine „Stasi-Akte“ zu lesen. Und er hatte Recht. Ich will es auch nicht wissen.
Die wirtschaftliche Situation war katastrophal. Die Regale in den Geschäften waren oft leer, und das, was angeboten wurde, war meistens von schlechter Qualität. Wer Glück oder Vitamin B hatte, bekam bestimmte Waren, wie Bananen, Mandarinen oder gutes Fleisch „unter dem Pult“ – heimlich und zu überhöhten Preisen. Oft musste man stundenlang anstehen. Die Schaufenster waren häufig mit leeren Verpackungen oder verblichenen Konserven „dekoriert“. Es war ein ständiges Gefühl des Mangels und der Frustration.
Ich träumte davon, dass eines Tages alles besser wird. Ich träumte davon, dass ich einfach so reisen und andere Länder und Sprachen kennenlernen kann. Ich träumte davon, frei wählen und ohne Angst meine Meinung sagen zu dürfen.
Und dann kam der 17. November 1989. Heute vor 35 Jahren. Ich war dabei. Ich habe als Studentin an den Demonstrationen teilgenommen. Ich hatte wahnsinnige Angst. Bis heute habe ich großen Respekt vor Polizisten und uniformierten Menschen. Niemand wusste, wie sich die Situation entwickeln würde. Die Erfahrungen aus dem Jahr 1968 waren verheerend. Ohne Handy und ohne Internet waren wir auf Flyer und mündliche Informationen angewiesen. Und wir machten trotzdem weiter. Tag für Tag. Zehn Tage dauerten die Demonstrationen. Zuerst an der Nationalstraße, später auf dem Wenzelsplatz. Ich war bei den Anfängen des "Informationsservice", das später "Respekt" hieß und bis heute die größte unabhängige und liberale Wochenzeitung ist . Am 10. Dezember trat die kommunistische Regierung zurück. Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel zum Präsidenten gewählt. Meine erste freie Wahl. Und das größte Abenteuer meines Lebens: ich durfte im Januar 1990 Václav Havel auf seiner ersten Auslandsreise nach Deutschland begleiten und für Respekt berichten. 
Und ich bin unendlich dankbar, dass ich das alles erleben und diese Geschichte mitschreiben durfte. Ich bin dankbar, dass ich seit 35 Jahren in Freiheit und Demokratie leben darf. Und ich wünsche mir für meine Zweitheimat Deutschland und für ganz Europa, dass die anstehende Wahl kein „Zurück“, sondern ein „Vorwärts“ sein wird. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Advent auf Kuba - Hoffnung im Dunkel

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen.

Hinter Mauern und Stacheldraht