Hinter Mauern und Stacheldraht

Am Freitag durfte ich bei der Verabschiedung des Gefängnisseelsorgers in der JVA Rottenburg dabei sein. Ich war vorher noch nie im Gefängnis. Zumindest nicht in so einem. Und doch kamen in mir Gefühle auf, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet habe. Ich ging vom Bahnhof hinauf zur JVA mit der noblen Adresse Schloss 1. Sie ragt oben über der Stadt Rottenburg. Hohe Mauern mit Kameras und einem Stacheldraht. Daneben Wohnhäuser und heile Welt. 

Am Eingang wurde mein Personalausweis nochmal gecheckt, weil ich nicht rechtzeitig angemeldet war. Scheinbar gibt es keine Einträge zu meinem Namen, die meine Teilnahme verhindert hätten. Der Ausweis blieb an der Pforte, im Schrank wurde mein Handy eingeschlossen. Durch hohe eiserne Tore wurden wir von einem uniformierten Vollzugsbeamten in die Welt "Hinter den Mauern" geführt. Und ich bekam innerlich Beklemmungen und leichte Panik. Wie es sich einfühlt, eingeschlossen zu sein, kenne ich aus meiner Jugend in der Tschechoslowakei. Scheinbar frei im Land, aber eingesperrt hinter dem eisernen Vorhang. Lebenslänglich. Wäre die Samtene Revolution nicht gekommen. Aber all das weiß man vorher nicht. 

Wir gingen durch das Gelände, alles gesichert, alles überwacht. Der Beamte mit der dunkelblauen Uniform und vielen Schlüsseln immer bei uns. Die Wege menschenleer. Auf dem Sportplatz spielten Männer Fußball. Eine scheinbare Normalität in einer anderen Welt. 

Seit eh und je fühle ich mich unwohl in Anwesenheit uniformierter Menschen - egal ob Polizei oder Soldaten. Da trage ich ein Trauma aus der Jugend in mir. 

Aus der Zeit, als wir nur in die anderen Länder des Ostblocks reisen durften und an der Grenze sinnlos schikaniert wurden. Der Inhalt meines Koffers wurde im Zug auf den Boden geleert und ich musste vor den Augen der Grenzsoldaten alles vom Boden aufheben und wieder in den Koffer legen. 

Aus der Zeit der Revolution, als ich bei der Demonstration am 17. November 1989 von einem Polizisten mit einem Gummiknüppel verprügelt wurde, bis ich nicht mehr laufen konnte. Erst sein Hund hat ihn angehalten, in dem er nach dem Knüppel schnappte. 

Bei einer anderen Demonstration, als mir ein Polizist meine Kamera aus der Hand risss, sie öffnete und den Film belichtete. Und mir dabei ins Gesicht grinste.

Aus der Zeit, in der wir schon reisen durften, die Tschechoslowakei aber noch nicht in der EU war. Aber die Grenzsoldaten waren da. Vielleicht sogar die alten. Und sie haben uns kontrolliert und auf eine andere Art und Weise schikaniert. Das Auto wurde durchsucht, die Ausweise mitgenommen, Wir mussten ewig warten, bis wir weiter fahren durften. 

Ich lief weiter entlang des Stacheldrahts Richtung Verwaltungsgebäude.

Und ich dachte an den Film Green Border, in dem der Stacheldraht zwischen Belarus und Polen immer noch Realität ist und dort Menschen sterben, die sich ein besseres Leben wünschen.

Und ich dachte an Alexej Nawalny, der an diesem Tag offiziell für tot erklärt wurde. Ich dachte an seine Frau und seine Kinder und an die Menschen in Russland und in der Welt, die so viel Hoffnung in diesen Menschen gesetzt hatten. Menschen, die sich nach Freiheit und Frieden sehnen und dem System Putin hilflos ausgeliefert sind. 

Ich kenne diese Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Eingesperrt und unfrei zu sein. Und zu wissen, es gibt eine Welt da draußen. Diese Welt da draußen ist freilich nicht heil und auch nicht perfekt, aber sie lässt mich frei atmen, mich frei bewegen, mich frei zu entscheiden und meine Meinung zu sagen. 

Das Gefängnis ist kein rechtsfreier Raum, im Gegensatz zu Diktaturen. Und doch ist es ein Leben hinter Gittern. In Unfreiheit. Auf Zeit. Länger oder kürzer. Mit Überwachung, Hierarchien und strikten Regeln.

Im obersten Stock des Verwaltungsgebäudes ist die Kirche. Kirche im Gefängnis. Das kenne ich. Kirche hinter dem eisernen Vorhang. Verfolgt und schikaniert. Hier darf die Kirche für die Menschen da sein. Sie bietet Hoffnung in Hoffnungslosigkeit. Sie bietet eine Art innere Freiheit im Gefängnis. Und das war spürbar. Für einen kleinen Moment konnte ich vergessen, dass ich mich zwischen Mauern und Stacheldraht befinde. Eingeschlossen und darauf angewiesen, dass ein uniformierter Beamter mir die Türen öffnet. 

Als ich vor dem Tor der JVA stand, mein Personalausweis und mein Handy in der Hand, habe ich erst tief durchgeatmet. Und wieder einmal bin ich dankbar, dass ich in einem Land leben darf, mit Rechten und Pflichten. Mit Freiheit und Demokratie. 


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